Am Dienstag, den 18. April 1978 hat sich mein Papa das Leben genommen. Er war 36 Jahre, meine Mama war 34 und ich war 5 Jahre jung.
Lange, lange Jahre habe ich mit mir gerungen, wie ich mit dem Thema umgehe. Jetzt, nach 36 Jahren schreibe ich diesen Blog-Artikel, weil ich es für das Richtige halte und weil es für mich ein Stück weit „Verarbeitungs-Therapie“ ist.
Die Gründe für seine Entscheidung hat er nie kommuniziert (es gab also keinen „Abschiedsbrief“); die wahrscheinlichste Erklärung ist Depressionen.
Anfangs hatte ich das Thema totgeschwiegen. Es war mir peinlich, ein Makel, ein Stigma. Unsere Umgebung, diverse Nachbarn, diverse Bekannte und einige andere Personen, ja sogar Verwandte, haben uns dafür verachtet und auf uns herab gesehen. Darüber bin ich heute noch traurig, wenn ich daran denke, wie Leute im kleinen, beschaulichen „Gammelshausen“ hinter vorgehaltener Hand getuschelt und getratscht haben. Es war vermutlich schlicht ihre Art, damit umzugehen. Mir (und meiner Mama bestimmt auch) hat es seinerzeit entsetzlich weh getan.
Wenn mich früher jemand gefragt hat, habe ich gesagt, dass mein Vater bei einem Autounfall starb. Das empfinde ich heute als großen Fehler, dass ich es verleugnet habe; vermutlich hätte ich weniger Sorgen gehabt, wäre ich entsprechend selbstbewusster mit der tatsächlichen Tatsache umgegangen.
Im Laufe der Zeit habe ich mich einigen sehr wenigen Personen anvertraut, gehofft und gefleht, dass sie mich nicht verurteilen mögen. Und natürlich hat mich nie jemand, der mir wichtig war und dem gleichzeitig ich wichtig war, dafür verurteilt. Erste Freundin(nen), Geschäftspartner, Freunde und sehr enge Bekannte. Alle waren empathisch oder anderweitig sehr einfühlsam.
Und heute bin ich eben so weit, dass ich für mich so damit umgehen kann, dass ich öffentlich dazu stehen kann (bzw. mich dazu zwinge), dass mir dieses Schicksal widerfahren ist. Ich möchte es ein für alle mal dokumentiert und „ausgesprochen“ haben. Ich möchte es niemandem auf die Nase binden, weil es irgendwie doch etwas Privates ist, und gleichzeitig möchte ich mich auch nicht mehr damit verstecken.
Epilog
Was für Reaktionen wünsche ich mir auf diesen Beitrag? Also wenn ich ganz ehrlich bin wäre eine „wohlwollende Ignoranz“ vermutlich das Angenehmste. Keine Verurteilung von mir als Angehöriger und auch keine Verurteilung ob dieses Beitrags wäre sehr schön für mich.
Danke.
Ergänzung Oktober 2017
Beim Aufräumen hat meine Mama ein Bild gefunden, das mein Vater zwei Tage vor seinem Tod gemalt hat:
Sie meinte, er und ich hätten zusammen Bilder gemalt und seines war eben das oben dargestellte.
Wenn es schon kein Abschiedsbrief gab, gab es ggf. ein Abschiedsbild? Ich bezweifle das, mir erscheint, dass das Bild keine besondere Aussage enthält, und schlicht ein Bild ist, in das man nicht zu viel hinein interpretieren sollte.
Zum Vergleich, ein Bild, dass er zwei Monate vor seinem Tod gemalt hat:
Ergänzung Dezember 2017
Das hier habe ich auch noch:
Schlimm fand ich, damals wie heute, dass ich nicht zur Beerdigung meines Papas durfte. Meine Mama wollte mich beschützen; für mich war es im Nachhinein eher wie ein nie genommener Abschied.
Habe mich manchmal gefragt, was mir am meisten geholfen hätte. Vermutlich hätte es, so im Nachhinein betrachtet, geholfen, dass absoluter Klartext mit mir geredet worden wäre. Kindgerecht, aber nichts beschönigt oder verniedlicht, oder religiöser Mumpitz mit „Himmel“ und so Quatsch. Die harte Wahrheit, und dann tage- und wochenlang Arme zum darin Heulen und Trösten und auch zum Sprechen, Reden und Reflektieren.
Das ist alles keine Kritik an meiner Mama, sie hat nach bestem Gewissen gehandelt.
Dieser YouTube-Kommentar:
Das ist für mich ein sehr interessanter Kommentar. Direkt aus dem Mund eines/einer Betroffenen zu hören, was die Gedanken sind. Da ist für mich tatsächlich einiges Neues dabei gewesen.